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Theaterpredigt: "Herkunft" nach dem Roman von Saša Stanišić

Theaterpredigt: "Herkunft" nach dem Roman von Saša Stanišić

Theaterpredigt: "Herkunft" nach dem Roman von Saša Stanišić

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Theaterpredigt: "Herkunft" nach dem Roman von Saša Stanišić

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 12.11.23:

Gottesdienst mit Theaterpredigt zu „Herkunft“ nach dem Roman von Saša Stanišić in einer Fassung von Mirja Biel im Theater Lübeck

„Es gibt kein Wort für alle Wörter. Wenn es eins gäbe, ein Wort für alle Wörter, dann könnte es etwa nur drei Sekunden lang existieren. Im Schnitt alle drei Sekunden wird ein neues Wort erfunden, das die Gesamtheit aller Wörter beeinflusst und das eine Wort für alle Wörter ungültig macht. Das Wort für alle Wörter ist nach drei Sekunden veraltet und der Bedeutung beraubt vom ständigen Drang zur Neuverordnung, Neuverwortung. Und schon ist es weg, schon weg, das Wort für alle Wörter.“ (Saša Stanišić, Herkunft, München 2019, 223.) Mit diesem Zitat aus Saša Stanišić Buch ‚Herkunft‘ beginnt die Inszenierung des gleichnamigen Stückes am Theater Lübeck, das am Freitag, den 10.11.23, in den Kammerspielen Premiere hatte. Ich habe dieses Zitat wie eine Überschrift verstanden, dass alles Leben, alle Gedanken, alles Reden und alles Sein immerzu im Fluss sind: Panta Rhei (Heraklit), Tempus fugit - eigentlich kein wirklich neuer Gedanke. Aber mich hat er ergriffen. Denn das, was ich in der Inszenierung gesehen und was ich in dem Buch gelesen haben, hat mir vor Augen geführt, dass auch mein Leben niemals stillsteht, sondern mich in eine niemals endende Suchbewegung führt. Niemals steige in den gleichen Fluss, niemals bin ich von einer Sekunde auf die nächste der gleiche. Auch wenn es natürlich ‚gewisse Ähnlichkeiten‘ zwischen mir 'eben' und mir 'gleich' gibt. Alles verändert sich ständig. Und ich veränderte mich mit. Wenn ich mich denn verändern lasse …. Die Lübecker Inszenierung von Stanišić‘ Suche nach der Bedeutung von ‚Herkunft‘ erst in den Wirren des Bürgerkrieges in Jugoslawien, dann als Geflüchteter in Deutschland und am Ende – so nennt man es in der Wissenschaft – als Pendelmigrant zwischen Višegrad und Hamburg, nimmt mich mit hinein in diese Suchbewegung. Und das besondere ist, dass es mich nicht nur in die Suchbewegung mit hineinnimmt, die da lautet: Wer ist Saša Stanišić? Sondern in die Suchbewegung mit der Überschrift: Wer bin ich? Ein roter Faden dieser Suchbewegung ist die Notwendigkeit, dass Stanišić zum „Erlangen der deutschen Staatsbürgerschaft unter anderem einen handgeschriebenen Lebenslauf bei der Ausländerbehörde“ einreichen muss. (6) Er beschreibt, wie er unzählige Male neu ansetzt, überlegt, verwirft und alles neu schreibt. Dabei stellt sich ihm die Frage: Was möchte er sagen, woher er kommt, wer er ist? Und mindestens ebenso wichtig ist: Was wollen die, die diesen Lebenslauf lesen und über die Einbürgerung entscheiden, von ihm hören? Was wollen die, die über seine Zukunft urteilen, von ihm wissen? Kann er schreiben, dass seine Großmutter bei der Mafia war? Kann er schreiben, dass er als junger Pionier ein aufrechter Kommunist war wie sein Opa Pero? Was wollen die Menschen hören, wer wir sind? Was wollen wir den Menschen erzählen, die darüber urteilen, wie wir selbst uns sehen? Diese beiden Pole erlebe ich als die existenzielle Pendelbewegung des Lebens. Ich mag an der Lübecker Inszenierung von Stanišić Buch, dass bis zum Ende nicht ganz klar wird, welcher Pol eigentlich stärker ist. Das bringt mich auf die Idee, dass nicht das Ankommen oder Festmachen an einem Pol das Ziel ist, sondern das Hin- und Herbewegen und damit die Suchbewegung selbst das Ziel unseres Lebens ist. Es gibt noch einen zweiten roten Faden in der Inszenierung, den ich heute hervorheben möchte. Dieser zweite rote Faden ist die Demenz seiner Großmutter Kristina. 2009 wird die Krankheit das erste Mal spürbar. Neun lange Jahre geht sie sich selbst und ihrer Umwelt Stück für Stück verloren, bis sie 2018 stirbt. Mit ihrer Demenz und später ihrem Tod gehen auch ihre Erinnerung an die Ursprünge der Familiengeschichte. Jedenfalls der serbische, der väterliche Teil der Familie. Dazu in Spannung steht der mütterliche Teil der Familie, der bosniakisch-muslimische. „Ich war Halbblut“, schreibt Stanišić: „Ich las Winnetou.“ (93) In ihm kamen die beiden Teile der väterlichen und mütterlichen Geschichte zusammen. Er ist serbisch und bosniakisch, jugoslawisch und deutsch. Er steht in allem dazwischen. Um wenigstens einen Teil seiner Wurzeln besser kennenzulernen, fährt er mit seiner Großmutter nach Oskoruša, einem Dorf in den bosnischen Bergen. Auf dem Friedhof picknicken sie. Seine Großmutter zeigt ihm Grabsteine. Auf fast allen steht: Stanišić. „Woher kommst du, Junge?“, fragte Gavrilo, ein Verwandter aus Oskoruša ihn angesichts dieser Geschichte. Und Stanišić antwortet: „Zugehörigkeitskitsch!“ (93) Oskoruša gehört heute zur Republika Srpska und liegt im serbischen Teil der beiden Entitäten des heutigen Bosniens-Herzegowinas. Der andere Teil ist eine kroatisch-bosniakische Föderation. In diesem kleinen Land leben bis heute Opfer und Täter des Jugoslawienkrieges zusammen. Obwohl in den 1990ern unendliche Schrecklichkeiten begangen wurden, um diese Gebiete, so nennt man es heute in der politischen Wissenschaft: ‚ethnisch zu säubern‘ – eine technische Umschreibung für schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit –, hat der Krieg es nicht vermocht, die jahrhundertelange Geschichte des Balkans als Schmelztiegel von Religionen und Menschen ganz zurückzudrehen. Dass es trotzdem versucht wurde, hat auch mit Religion zu tun. Als ich diesen Gottesdienst entworfen habe, habe ich mir darüber Gedanken gemacht, was wir angesichts dieser Schuldgeschichte auch und besonders der christlichen Religion eigentlich heute noch singen, sagen und beten können. Und zwar ohne uns nicht mit jedem zweiten Wort entschuldigen zu müssen für das, was im Namen des Christentums angerichtet wurde. Dahinter steht ein brutales Missverständnis – oder besser gesagt: eine schreckliche, bis heute anhaltende mutwillige Falschinterpretation des Bibelwortes, das wir heute als Lesung gehört haben. Da heißt es: „Als Jesus von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ (Lk 17.20) Jesus sagt hier: Ich bin das Reich Gottes. Was im zerfallenden Jugoslawien gehört wurde, ist dagegen: Wo wir sind, ist das Reich Gottes. Dieser Nationalismus hat Jugoslawien zerfressen, zerstört und Menschen getötet. Missinterpretation, Mutwilligkeit hat Jugoslawien zerstört. Die Bibel spricht ausdrücklich davon, dass wir das Reich Gottes eben nicht erzwingen können. Dass wir keine zwielichtigen Beweise anführen dürfen, um es für unsere Leute, unsere Nation und unser Land zu reklamieren. Wenn es in der Bibel heißt: Das Reich Gottes ist mitten unter euch, ist damit nicht gesagt, dass wir es haben, sondern dass wir es sein können oder besser gesagt: dass wir es sein könnten. Und zwar dann, wenn wir Unterschiede aushalten, Gemeinsamkeit suchen und der Versuchung widerstehen, Land, Geld, Ideen und Grenzen für uns alleine zu reklamieren. Der Bibel geht es darum, dass wir mit anderen zu teilen – diejenigen, die sie nationalistisch lesen und verkünden, machen daraus das genaue Gegenteil. Als Stanišić in Oskoruša das Haus seiner serbischen Vorfahren betritt, steht auf dem Regal im Wohnzimmer „ein kleiner Fernseher … Auf dem Gehäuse Häkelhandwerk und auf dem Häkelhandwerk zwei gerahmte Fotos von den Kriegsverbrechern Radovan Karadžić und, in Uniform, Ratko Mladić. Ich muss mich setzen“, schreibt er. (48) Diese beiden Kriegsverbrecher wollten seine Mutter, und wahrscheinlich auch ihn, vertreiben oder töten. Seine serbisch-bosnische Herkunft zwischen zwei Religionen ist verwoben mit dem tödlichen Nationalismus, der nicht nur Jugoslawien in den Abgrund gerissen hat. Sein Vater ist serbisch-orthodoxer Herkunft und seine Mutter bosnisch-muslimischer. Im multiethnischen Jugoslawien war überhaupt keine Seltenheit. Heute ist es praktisch ausgeschlossen. In Jugoslawien war, genauso wie damals in Saša Stanišić Familie und ganz offenbar auch in seinem heutigen Leben, Religion wenig präsent. Es gab sie eigentlich nur als Antipode. Aber im religiös aufgeladenen Krieg in Jugoslawien drehte sich diese Bedeutung radikal um und die vermeintlich falsche Religion kam viel zu oft einem Todesurteil gleich. Stanišić schreibt dazu: „Im April 1992 rief jemand den Namen meiner Mutter in der Tito-Straße in Višegrad sehr laut. Mutter zuckte zusammen. Ein Mann saß auf dem Mäuerchen vor dem Rathaus und winkte sie zu sich. Polizeihemd und Waffengurt und Trainingshose. Sein Gesicht kam Mutter bekannt vor, wie er hieß, erinnert sie sich heute nicht mehr. Als sie vor ihm stand, wiederholte er ihren Namen leiser und mit gespielter Sorge. Er fragte Mutter, ob sie denn wisse, wie spät es sei. Mutter verstand schon, dass er nicht die Uhrzeit meinte, sie sagte sie ihm dennoch.“ (114) Ich wäre der Versuchung erlegen, diesen Erzählstrang groß zu machen und stark hervorzuheben. Ich hätte die Geschichte vom Missbrauch der Religionen, von Angst, Flucht, Vertreibung und Mord in den Mittelpunkt der Inszenierung gestellt. Zum Glück hat mich niemand gefragt. Denn ich hätte Buschta und Screbrenica, die Kibbuzim im Süden Israels und Gaza-Stadt laut gemacht, die Toten an den Außengrenzen der EU und die, die im Mittelmeer ertrinken, die Opfer im Sudan, die Bombardierten in Jemen usw. Während ich am Freitag in der Premiere der Inszenierung von ‚Herkunft‘ saß, habe ich mich mehr als einmal gefragt: Warum hält die Regisseurin dieses Thema zurück? Warum deutet sie es nur leise an und stellt es nicht in den Mittelpunkt? Wieso lässt sie die Protagonisten, die Stanišić darstellen, sagen: „Nach heutigem Asylrecht wäre ich an den Grenzen der EU am Zaun in Ungarn hängen geblieben.“ Wieso ruft sie nicht mit Ernst Reuter laut und theatralisch: Ihr Völker der Welt, schaut auf Saša Stanišić und den Wahnsinn von Krieg, Flucht und Religion? Als ich nach der Inszenierung auf der Premierenfeier diesen Gedanken vorsichtig – ich wollte ja nicht sagen: Ich fand die Inszenierung nicht gut, denn ich fand sie großartig – dem Chefdramaturgen Oli Held mitteilte, schaute er mich eindringlich an und sagte: Nimm auch die anderen Geschichten wahr – die vom Kanufahren nachts im Schwimmbad in Heidelberg, von der Clique an der ARAL-Tankstelle im Emmertsgrund, vom ersten Date mit Ricke und dem ersten Kuss, der nach Köfte schmeckte. Stanišić, sagte Oli Held, ist mehr als Flucht und Krieg. Leg‘ ihn nicht auf eine Sache fest. ‚Ertappt‘, dachte ich. Und ich musste daran denken, wie die Szene mit seiner Mutter und dem Polizisten weiterging: „Als der Polizist ihr im April 1992 nahelegte, aus Višegrad zu verschwinden … lautete ihre Antwort in einem Leben, das ich für sie geschrieben hätte: ‚Wer hat entschieden, dass ich eine Muslima bin?‘“ (117) Wer wir sind, wer Sie sind, wer ihr seid, wer ich bin, müssen, können und brauchen wir nicht anderen überlassen: „Als Jesus“, heißt es in der Bibel, „von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes? … sprach … [er] zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen. Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da!, oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft nicht hinterher! Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.“ In Jesus – so lese ich diese Bibelstelle vor dem Hintergrund der Inszenierung und des Buches – können wir uns selbst wiedererkennen: In sein Leben und Sterben und seiner Auferstehung können wir als Glaubende präsent sein. Doch wenn wir glauben, wir wüssten genau, was damit genau gemeint ist, tappen wir in die menschlich, allzumenschliche Falle, die ich eben versucht habe, zu beschreiben: Dann werden wir das erleben, was im Bild des Blitzes angelegt ist: Wir werden geblendet und auf das zurückgeworfen, was wir selber sind, was wir selber denken, meinen und wollen. Und genau davon, so verstehe ich es und so glaube ich es, will Gott uns erlösen: Ob Stanišić und die Inszenierung das auch möchte, wage ich nicht zu sagen. Aber ich glaube, Gott möchte es. Ich glaube, dass er uns davon befreien will, dass wir immer nur uns selber sehen, dass wir alles um uns herum gruppieren, dass wir nicht anders können, als uns in den Mittelpunkt der Welt zu rücken. Religiös gesprochen, ist dieser Platz aber schon besetzt. Wenn ich mich auf den Gedanken einlasse, dass nicht ich im Mittelpunkt meiner Welt stehe, sondern Gott, kann ich zurücktreten und ablassen von den Versuchen, mich selbst an die Stelle Gottes zu stellen. Dann kann ich schauen, hören und fragen, was Gott für mich bereithält. Und ich kann darauf vertrauen, dass es friedlicher ist als das, was ich machen würde. Mich entlastet dieser Gedanke ungemein. Weil er mich erlöst von meiner eigenen Hybris und der Versuchung, mich absolut zu setzen. Karl Barth, einer der wichtigsten Theologen des 20. Jahrhunderts hat einmal gesagt: Wir müssen Zeitung und Bibel nebeneinanderlegen und aufeinander beziehen. Denn wir können die Bibel nicht ohne den Anspruch des wirklichen Lebens verstehen und das wirkliche Leben nicht ohne die Verkündigung der Bibel. Nur indem wir beides aufeinander beziehen, kann es uns gelingen, dass Glaube und Leben nicht auseinanderklaffen, sondern dass die biblische Botschaft in unserem Leben konkret wird. Am Freitagabend war es nicht die Zeitung, sondern die Premiere von Herkunft, die sich für mich neben den Bibeltext des heutigen Sonntags gelegt hat. Dabei hat sie mir – vermittelt durch die Worte des Dramaturgen Oli Held – gezeigt, dass nicht nur die anderen die bösen sind, auch wenn sie schreckliche Untaten tun. Sondern dass das Festlegen von anderen auf meine beschränkte Weltsicht der Moment ist, in dem das Unglück seinen Lauf nimmt. Der Ursprung von Nationalismus und Gewalt liegt darin, dass andere so sein sollen wie ich sie sehen, dass andere nur die Rolle in meinem Leben spielen dürfen, die ich für sie vorgesehen habe. Darin, so glaube ich, liegt die eigentliche Versuchung. Der Bibeltext des heutigen Sonntags kontrastiert diese Vorstellung mit dem Bild, dass der Menschensohn an seinem Tag wiederkommt und dann so sein wird, wie er ist – nicht, wie wir ihn gerne hätten. Die Erlösung, die Gott uns in Jesus anbietet, liegt darin, dass wir uns in dieser Bewegung wiedererkennen können. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, dass wir Heraustreten aus dem Platz in der Mitte der Welt und gleichzeitig akzeptieren, dass in dieser Mitte etwas ist, das größer und hoffentlich friedlicher ist als wir. Diese Einsicht ermöglicht, dass wir als Geflüchtete glücklich, als Kranke zufrieden und als Gehetzte ungezwungen sein dürfen. Weil jedes Wort, das wir sprechen und dass uns zugesprochen wird, uns neu macht. Weil das, was wir eben noch waren, im nächsten Moment Vergangenheit ist. Weil unser Leben – und wir mit ihm – immerzu im Fluss sind. Und weil die Quelle, die uns speist und unser Leben, Sterben und Wiederaufstehen umfängt, größer und tiefer als unser Denken, Hoffen und Meinen. Amen"

Pastor Dr. Sönke Lorberg-Fehring ist der Referent für Christlich-Islamischen Dialog in der Nordkirche. Vielen Dank, dass Sie bei uns waren!

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