29/12/2024 0 Kommentare
Die Zeichen der Zeit erkennen und träumen - Predigt zum 1. Sonntag nach dem Christfest von Vikar Per Olsen
Die Zeichen der Zeit erkennen und träumen - Predigt zum 1. Sonntag nach dem Christfest von Vikar Per Olsen
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Die Zeichen der Zeit erkennen und träumen - Predigt zum 1. Sonntag nach dem Christfest von Vikar Per Olsen
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!
Liebe Gemeinde,
Was bringt uns das neue Jahr? In diesen Tagen „zwischen den Jahren“ wagen viele Medienschaffende bereits einen Ausblick auf das kommende Jahr. Und sie berichten von bahnbrechenden Neuerungen: Altkleider dürfen nicht mehr in den Restmüll, es soll ein EU-einheitliches Ladekabel kommen, und Standardbriefe kosten in Zukunft 95 Cent. Vielleicht rezipiere ich auch die falschen Medien, doch bei dem was so zu lesen bekomme, drängt sich mir der Eindruck auf, dass so manche Neujahrsprognose wenig mehr zu bieten hat als belanglose Nachrichten. Wo bleiben die großen Visionen? Wo die spannenden Ausblicke auf ein neues Jahr? Wo bleiben neue Perspektiven für unsere Gesellschaft?
Vielleicht mag es daran liegen, dass sich viele Journalisten insbesondere in diesem Jahr scheuen, einen Blick auf unsere Welt und ihre Verfassung zu werfen. Es gibt so viele ungelöste Probleme, so viele Unsicherheiten und unklare Dinge. Die Fragen, die ein neues Jahr mit sich bringt, können einen überfordern, Angst machen und manchmal haben wir auch einfach keine Lust, über sie nachzudenken.
Wie gut, dass es „zwischen den Jahren“ ebenso viele Jahresrückblicke gibt. Viel schöner ist da manchmal der Blick zurück und je weiter wir zurückschauen, desto schöner, friedlicher und fröhlicher erscheint uns die Vergangenheit. Auch das Weihnachtsfest ist alle Jahre wieder ein schöner Anlass, nostalgisch zu werden, in Erinnerungen zu schwelgen und selbst liebgewonnene Traditionen aufleben zu lassen. Wie gut, dass der heutige Sonntag – der 1. Sonntag nach dem Christfest – noch einmal die Weihnachtsgeschichte aufleben lässt und sie fortschreibt. So, wie es auch der im Wochenspruch des heutigen Sonntags tut:
„Und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14)
Die Herrlichkeit von Weihnachten noch einmal sehen. Bei dem heutigen Predigttext, der handelt es sich um einen Ausschnitt aus der Weihnachtsgeschichte nach Matthäus. Ich lese aus dem 2. Kapitel:
13 Als [die Weisen] aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen.
14 Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten 15 und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, auf dass erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.«
16 Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Knaben in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte. 17 Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da 18 »In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.«
Flucht und Vertreibung, Geschrei, Weinen und Wehklagen – diese Weihnachtsgeschichte mag nicht unbedingt weihnachtliche Gefühle wecken. Da hören wir von der Heiligen Familie und ihrer Flucht nach Ägypten, von einem Despoten, der in seiner Wut viele Unschuldige töten lässt – und das, weil die Weisen ihm nicht erklären, wo er den „neuen König“ findet. Und wir hören von einer schrecklichen Klage der Mütter, die ihre Kinder verloren haben.
Nicht gerade besinnlich, was der Evangelist hier berichtet. Warum lässt Matthäus diese dunklen, schockierenden Ereignisse in seiner Erzählung nicht einfach aus? Warum muss er uns mit dem Leid dieser Welt konfrontieren? Können wir es nicht einfach bei dem Blick auf die Krippe belassen, uns die Freude und den Frieden bewahren, die Weihnachten uns bringt? Warum können wir nicht einfach nur „seine Herrlichkeit“ sehen, „voll Gnade und Wahrheit“?
Warum? Weil für den Evangelisten auch dieser Abschnitt der Geburtsgeschichte Jesu voller Gnade und Wahrheit steckt. Matthäus blendet das Leid nicht aus, sondern stellt es in einen größeren Zusammenhang. Für ihn ist nicht nur die Geburtsgeschichte Jesu, sondern Jesu ganzes Reden und Handeln die Erfüllung einer Hoffnung, von der die Propheten bereits jahrhundertelang berichten. Und wenn er nun von der Flucht nach Ägypten berichtet, dann, weil sich hier und jetzt für ihn „erfüllt, was durch die Propheten gesagt wurde.“ Jesus ist nicht einfach nur irgendein Mensch, der kluge Dinge sagt und wundersame Dinge tut. Jesus ist der Heiland, der auf den viele Menschen schon damals hofften. Das ganze Matthäusevangelium ist durchzogen von Zitaten der alten Propheten, von Hoffnungen, die sich jetzt mit Jesus Christus erfüllen.
Matthäus zeigt uns, dass dunkle Geschehnisse nicht nur allein Leid bedeuten, sondern Teil eines größeren Ganzen sind. Er sieht nicht - nur aber auch - in tragischen Ereignissen wie diesen Zeichen der Zeit, die im größeren Kontext der Geschichte Israels und Gottes Plan für die Welt stehen. Für ihn ist Jesus das Licht, das in diese Dunkelheit kommt. Diese dunklen Stunden sind nur der Anfang einer neuen Zeit – der Zeit von Jesu Wirken.
„Und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“
Auch wenn wir Gott haben, der mit Christus in diese Welt kommt, bleibt das Leid nicht aus und wir können es nicht permanent ausblenden. Es gibt Vertreibung, Tod und Trauer. Doch gerade wenn Menschen mit Gewalt und Angst auf Veränderung reagieren, bleibt Gott nicht fern. Matthäus macht klar, dass nichts – auch kein Despot wie Herodes – Gott davon abhalten kann, sich uns Menschen zuzuwenden. Er wird sich seinen Menschen immer wieder zuwinden, selbst in der tiefsten Dunkelheit.
In dieser Erkenntnis steckt Hoffnung, auch für ein neues Jahr, mit der Weihnachtsgeschichte im Gepäck. Erst wenn wir Weihnachten und das, was dort passiert ist, nicht nur als abgeschlossene Episode zwischen dem 24. und dem 26. Dezember abhandeln, sondern sie bewusst mit in unseren Alltag und in das neue Jahr nehmen, entfaltet sie ihre ganze Kraft. Und dann können wir auch wieder nach vorne schauen und träumen. Als Jesus geboren wird, liegen die Verheißungen der alten Propheten lange zurück. Josef kommt im vorliegenden Text in seinen Träumen zu neuen Erkenntnissen, sieht die Zeichen der Zeit und zieht seine Schlüsse daraus. Der Traum treibt ihn an.
Wo fangen wir an die Zeichen der Zeit in einem neuen Licht zu sehen – voll Gnade und Wahrheit? Wo können wir im neuen Jahr darauf hoffen, dass die Geschehnisse in dieser Welt in einem größeren Zusammenhang stehen und Gott eines Tages die Dinge zum Guten wenden wird? Wo fangen wir an zu träumen?
Ein letzter Rückblick – nicht in die vergangenen Weihnachtsfeiertage, sondern in die 60er Jahre in die Vereinigten Staaten. Dort begab es sich, dass ein Mann einen ganz einprägsamen Traum formulierte: Martin Luther King mit seiner Rede 1963 am Lincoln Memorial in Washington: „I have a dream!“ (dt. Ich habe einen Traum!)
I have a dream that one day this nation will rise up and live out the true meaning of its creed: We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal.
(Dt. Ich habe einen Traum, dass sich diese Nation eines Tages erhebt und die wahre Bedeutung ihres Bekenntnisses auslebt: Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen sind.)
Martin Luther King sah dasselbe wie alle anderen: die Gewalt, die Ungerechtigkeit, das Leid dieser Tage. Doch er zog einen anderen Schluss daraus, einen hoffnungsvollen: Er sah die Zeichen der Zeit und glaubte an eine gemeinsame Zukunft, an Gleichheit und Frieden. Dieser Traum hat ihn angetrieben und er war fest überzeugt davon, weil es so Gottes Wort verheißen hatte, wie er weiter an diesem Tag erklärt:
„Ich habe einen Traum, dass eines Tages alle Täler erhöht und alle Hügel und Berge erniedrigt werden, dass die unwegsamen Stellen geebnet und die krummen Stellen gerade gemacht werden (Lk 3,5) und dass die Herrlichkeit des Herrn offenbart wird (Joh 1,14) und alles Fleisch es gemeinsam sehen wird (Lk 3,6).“
„Und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“
Dieser Traum, den Martin Luther King während der schlimmsten Zeiten der Rassentrennung formuliert, spricht von der Hoffnung und diese Hoffnung ist weihnachtlich. Aus dieser Hoffnung auf einen Gott, der seine Verheißungen erfüllt, dürfen auch wir auf eine bessere, gerechte Welt hoffen, die eines Tages kommen wird – auch wenn wir nicht genau wissen, wann. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, vielleicht im Jahr 2025, aber auf jeden Fall eines Tages.
Auch wir können die Zeichen der Zeit sehen – so wie sie sind, mit all ihren Herausforderungen. Doch mit der Weihnachtsgeschichte im Ohr dürfen auch wir mit Blick auf diese Welt träumen – vorsichtig, aber hoffnungsvoll, voll Gnade und Wahrheit.
Amen.
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