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"Man kann ja sowieso nichts tun?": Geschichten von Menschen, die im Kleinen Großes bewirkt haben

"Man kann ja sowieso nichts tun?": Geschichten von Menschen, die im Kleinen Großes bewirkt haben

"Man kann ja sowieso nichts tun?": Geschichten von Menschen, die im Kleinen Großes bewirkt haben

# D | Predigten

"Man kann ja sowieso nichts tun?": Geschichten von Menschen, die im Kleinen Großes bewirkt haben

Die Schüler:innen Henri Mache, Sixten Malner, Tom Mikkelsen, Yelyzaveta Syzonenko von der Oberschule zum Dom haben von muslimischer Unterstützung für jüdische Familien in Albanien erzählt:

„Man kann ja sowieso nichts tun!" – eine Aussage, die man heutzutage ziemlich häufig hört, sei es wegen aktueller politischer Aktionen oder Situationen aus dem Alltag. Wer dies äußert, drückt aus, dass er nichts an den Umständen und den Gegebenheiten ändern kann, seiner Situation erliegt, sowohl für sich selbst als auch für seine Mitmenschen. Doch stimmt das wirklich? Gibt es Situationen, in denen wir wirklich nichts tun können? Oder ist es oft nicht vielmehr Bequemlichkeit oder Angst, die uns dazu bringt, diese Haltung einzunehmen?

Wie oft nehmen wir in unserem Alltag unbewusst dieselbe Haltung ein? Wir ignorieren das Unrecht, das anderen widerfährt, oder wir überlassen es anderen, die Verantwortung zu übernehmen, weil wir glauben, dass unser Beitrag keinen Unterschied macht. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Jeder kleine Schritt, jede mutige Entscheidung kann eine Kettenreaktion auslösen, die das Leben anderer nachhaltig verändert. Die Geschichte der albanischen Familie Veseli, die wir heute mit Ihnen teilen möchten, zeigt uns eindrücklich, dass es immer Handlungsspielräume gibt. Selbst in den dunkelsten Zeiten, unter höchster Gefahr, entschieden sich Menschen dazu, etwas zu tun – füreinander einzustehen, Leben zu retten und Mut zu beweisen.

Die Geschichte beginnt mit der Hochzeit von Mosche Mandil und Ela Konfino am 17. Oktober 1935 in Belgrad. Mosche, ein Fotograf, lernte Ela, die Tochter des königlichen Hof-Fotografen Gavra Konfino, zufällig kennen. Ohne voneinander zu wissen, wer der andere war, verliebten sie sich und heirateten. Das Paar bekam zwei Kinder: Gavra und Irene. Mit dem Aufkommen des Zweiten Weltkriegs änderte sich das Leben der Familie dramatisch. Im Sommer 1942 floh die Familie in eine Kleinstadt in Albanien, das ebenfalls unter italienischer Kontrolle stand.

Nach Italiens Kapitulation im September 1943 übernahm die deutsche Wehrmacht auch in Albanien die Kontrolle. Um der Verfolgung zu entgehen, floh die Familie nach Tiranë. Dort fanden sie Zuflucht bei einem ehemaligen Gehilfen des Großvaters, der ein Fotostudio betrieb. Mosche begann dort zu arbeiten und den jungen Albaner Refik Veseli auszubilden.

Mosches Sohn, Gavra, erinnerte sich: „Unter den vielen Klienten (...) befand sich sogar ein ... hoher Prozentsatz von deutschen Offizieren...“ Wenn mein Vater fotografierte, stand er hinter der Kamera, unter dem schwarzen Tuch (...), und Refik verhandelte mit dem Klienten (...) „Und der deutsche Offizier zum Beispiel, der sich da fotografieren ließ, hatte keine Ahnung, dass sich unter dem schwarzen Tuch ein jüdischer Flüchtling aus Serbien befand.“

Zwischen Mosche und Refik entwickelte sich eine enge Freundschaft. Refik war ein frommer Muslim, der glaubte, dass jedes Klopfen an der Tür ein Segen Gottes war.

Doch die Lage verschärfte sich. Die Deutschen begannen Razzien und verlangten, dass sich verbliebene Juden melden. Die Situation in Tiranë spitzte sich so zu, dass es für Familie Mandil eng wurde. Refik schlug vor, die Familie ins Haus seiner Eltern in die albanischen Berge in Krujë zu bringen. Gavra erinnert sich: „Im Nachhinein erfuhr ich, (...) dass ein Familienrat gehalten wurde (...), an dem Refiks Vater Vesel Veseli, Refiks älterer Bruder Hamid und seine ältere Schwester Hyrije teilnahmen.“ „Das Thema, das auf der Tagesordnung stand, war nicht, ob die jüdische Familie Mandil gerettet werden sollte, sondern wie.“ Die Familie Mandil und drei weitere Verwandte fanden Schutz im Haus der Familie Veseli. Im Herbst 1944 schien die Situation in Krujë sicher, als die Partisanen das Dorf von der deutschen Besatzung befreiten. Die Familie Mandil und die anderen Dorfbewohner feierten ausgelassen ihre Freiheit. Doch die Freude war nur von kurzer Dauer. Deutsche Truppen eroberten das Dorf zurück und begannen eine erbarmungslose Suche nach Partisanen, Kommunisten und Juden. Sie suchten jedes Haus durch. Gavras Eltern erkannten, dass sie praktisch keine Chance mehr hätten, zu entkommen. Sie beschlossen, sich von den Kindern zu trennen, um wenigstens diese vor der Deportation zu schützen. Die Familie nahm unter Tränen Abschied. Die Kinder versteckten sich in einem Toilettenverschlag und wagten erst nach einem ganzen Tag, hinauszugehen. Als Gavra zurückging, fand er seine Eltern unverändert im zerstörten Haus. „Als die Deutschen zum Haus kamen, dachten sie, es sei völlig zerstört.“ „Keine Stimmen waren im Haus zu hören, (...) und die Deutschen kamen, sahen: Hier ist niemand, gingen weiter zum zweiten, zum dritten Haus, durchsuchten alle Häuser im Dorf und zogen weiter.” Die Familie war gerettet.

„Man kann ja sowieso nichts tun.“ Ein Satz, den wir alle schon gehört haben – vielleicht haben wir ihn sogar selbst gesagt. Doch nach der Geschichte der Familien Mandil und Veseli wissen wir: Dieser Satz ist nicht wahr. Refik Veseli und seine Familie lebten in einer Zeit, die von Angst und Unterdrückung geprägt war. Sie riskierten ihr Leben, um eine jüdische Familie zu retten, obwohl die Gefahr groß war und der Preis, den sie hätten zahlen können, unvorstellbar hoch. Doch sie handelten, weil sie überzeugt waren, dass sie etwas tun konnten – und dass sie etwas tun mussten. Das Selbstverständnis ihrer Hilfsbereitschaft erklärte Frau Veseli so: „Der Koran lehrt uns, dass alle Menschen – Juden, Christen, Muslime – unter dem einen Gott stehen.“ Anstatt sich aufgrund des unterschiedlichen Glaubens auszugrenzen, war der Glaube der Albaner die Grundlage für Gastfreundschaft, Hilfe und Liebe.

„Unser Haus ist in erster Linie Gottes Haus, in zweiter Linie das Haus unserer Gäste und erst an dritter Stelle das Haus unserer Familie.“ An dieser Einstellung hat sich bis heute nichts geändert. Als meine Familie vor ein paar Jahren nach einer langen Wanderung in einem albanischen Dorf ankam, wurden wir mit einem Lächeln und großer Gastfreundschaft begrüßt. In der Hütte, in der wir blieben, gab uns eine ältere Frau mehr, als wir brauchten. Wir spielten den ganzen Abend Fußball mit den Söhnen, konnten viel lachen und uns austauschen. Am nächsten Morgen wachten wir am Geburtstag meiner Schwester auf. Die Gastfamilie hatte den Tisch schon gedeckt, und eine dicke Torte stand bereit.

Die Werte der Albaner können uns als Vorbild dienen – ein Vorbild, wie wir Menschen nicht aufgrund ihrer Herkunft, ihres Glaubens oder ihrer politischen Einstellung ausgrenzen sollten.

Verglichen mit der Familie Veseli klingt unser „Man kann ja sowieso nichts tun“ geradezu lächerlich. Was Familie Veseli geleistet hat, zeigt uns: Es ist immer möglich, zu helfen. Und oft ist der Preis dafür verhältnismäßig gering. Es erfordert kein großes Heldentum, sondern oft nur die Entscheidung, nicht wegzusehen. Es ist die Bereitschaft, Mitgefühl zu zeigen, wo andere Gleichgültigkeit wählen. Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen Hilfe brauchen. Sei es ein offenes Ohr für einen Freund, eine helfende Hand für einen Nachbarn oder die Unterstützung für Fremde, die bei uns Schutz suchen. Jeder von uns hat die Möglichkeit, ein kleines Stück zu dieser Welt beizutragen.

Die Geschichte der Veselis erinnert uns: Niemand ist machtlos, und jeder kann helfen. Es liegt an uns, diese Lehre in unserem Alltag umzusetzen – mutig, entschlossen und voller Menschlichkeit. Familie Mandil wurde ein schlimmes Schicksal erspart. Und das dank der Gastfreundschaft und Hilfe der muslimischen Albaner, die sich ohne zu zögern in immense eigene Gefahr brachten.

Pastorin Margrit Wegner erinnerte an Vikarin Margarete Hoffer:

Man kann ja sowieso nichts tun. Es machen schließlich alle mit. Was soll man als einzelne schon machen? – Am Abend des 9. Aprils 1938, als die Nazis seit über fünf Jahren an der Macht sind, läuten nach einer Rundfunkrede Hitlers in nahezu allen Kirchen Deutschlands die Glocken. Es werden Dankgottesdienste abgehalten, Dankgebete gesprochen, in Predigten wird dem „Führer“ für seine „Befreiungstat“ (sic) gedankt. Ein alter nationaler Traum ist für viele in Erfüllung gegangen: Deut-sche Truppen sind in Österreich einmarschiert und haben das Land dem nun „Großdeutschen Reich“ angegliedert. Ein Begeisterungstaumel erfasst das Land, der Jubel kennt keine Grenzen. Aber: In allen Kirchen Schwenningens im Schwarz-wäldischen bleiben die Glocken stumm. Dankgottesdienste finden nicht statt. Dankgebete schon gar nicht. Hier hat der junge Stadtpfarrer seine Kollegen über-zeugen können, dass der „Anschluss“ Österreichs eine Ausdehnung der Terror-herrschaft und eine Ausweitung der Verfolgung jüdischer und andersdenkender Menschen bedeutet. Er selbst stammt aus einem nationalen, konservativen Eltern-haus, war in den Anfangsjahren der Weimarer Republik Mitglied in einem rechtsra-dikalen Freikorps, das die Demokratie bekämpft. Doch ihm kommen zunehmend Zweifel, und er schließt sich der bekennenden Kirche an. Gemeinsam mit Kollegen unterläuft er staatliche Beschlüsse. Er ermöglicht Jugendlichen, sich weiterhin ab-seits der Hitlerjugend in der Gemeinde zu treffen, und er stärkt ihnen den Rücken, die sich dem staatlichen Religionsunterricht, der NS-Indoktrinierung entziehen. Ständig steht er mit einem Bein im Gefängnis oder KZ. Dennoch verweigert er das Gelöbnis auf den Führer. Und er holt 1941, als der Krieg schon zwei Jahre andau-ert, die junge österreichische Theologin Margarete Hoffer als Vikarin in seine Ge-meinde. Frauen durften damals nicht Pastorin werden. Als unverheiratete Vikarin konnten sie aber in Gemeinden alle Aufgaben übernehmen – und mussten das zu-nehmend, als auch die Pastoren in den Krieg zogen. Margarete Hoffer war nicht nur Seelsorgerin für die Christ:innen des Ortes. Sie hat unter Einsatz ihres Lebens jüdische Menschen in Pfarrhäusern versteckt. Sie wurde Teil der sog. Württember-gischen Pfarrhauskette. Vor allem Pfarrfrauen und Ehrenamtliche aus Gemeinden waren es, die Menschen manchmal für wenige Nächte, manchmal für viele Monate aufnahmen, versteckten, neue Identitäten erfanden, Lebensmittelkarten teilten und versuchten, sie über die Schweizer Grenze zu bringen. Sie haben in den Verfolgten nie nur die Opfer gesehen, sondern die Menschen, an deren Stelle sie selbst hätten sein können. Als Pastorin lese ich ihre Geschichte als große Anfrage an mich und meine Kirche. Wo stehen wir? Was beutet Mut heute? Was kann ich konkret tun?

Herta Pineas, die versteckt und gerettet wurde, schreibt später über die junge Vi-karin: „Nie habe ich einen Menschen getroffen, der [...] so intensiv und bewusst das Gute zu leben bemüht ist wie sie. Sie hat uns wirklich beherbergt und gespeist mit eigenem Verzicht, sie ist in viele Richtungen gereist, um neue Quartiere zu finden [...], sie hat uns ihre Ruhe und Entspannung geopfert und war diejenige, die volles Verständnis hatte für alle unsere Nöte und Sorgen.“ Margarete Hoffer selbst, die nach dem Krieg als Frau nicht weiter in der Gemeinde predigen und arbeiten durf-te, schrieb 40 Jahren später in einem Brief, dass es doch „so lächerlich wenig“ ge-wesen sei, „was man tat und tun konnte.“ Man kann doch sowieso nichts tun? Etwas kann man immer tun. „Was anybody going to say anything?“, hat sich die Bi-schöfin von Washington vor einer Woche gefragt und hat den mächtigsten Men-schen der Welt an die biblische Botschaft der Nächstenliebe erinnert. Margarete Hoffer, die junge Vikarin, schrieb 1987 in dem Brief: „Das, was einen im so engen und längeren Zusammenleben mit diesen Gejagten am meisten belastete, war nicht die stete [...] Angst vor Entdeckung [...], sondern das Mit-Spüren ihrer ununterbrochenen Anspannung und Angst, und diese Scham, teilzuhaben an dieser entsetzlichen Schuld, an diesem schweigenden ‚Zuschauen des Volkes‘ [...]“ Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Geschwistern, das habt ihr mir getan, sagt Jesus (Mt. 25, 40). Schweigen und Zusehen ist keine Option. Amen


Dr. Gerhard Eikenbusch erinnerte an berührende Schicksale Lübecker Familien.
Die Biographie der Familien Schenk, Schild und Litwack können Sie hier nachlesen.

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