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Politische Gedanken zu einem Text, in dem es nicht um Politik geht - Predigt von Pastor Martin Klatt zum (Wahl-)Sonntag Sexagesimä

Politische Gedanken zu einem Text, in dem es nicht um Politik geht - Predigt von Pastor Martin Klatt zum (Wahl-)Sonntag Sexagesimä

Politische Gedanken zu einem Text, in dem es nicht um Politik geht - Predigt von Pastor Martin Klatt zum (Wahl-)Sonntag Sexagesimä

# D | Predigten

Politische Gedanken zu einem Text, in dem es nicht um Politik geht - Predigt von Pastor Martin Klatt zum (Wahl-)Sonntag Sexagesimä

Heute ist kein Sonntag wie jeder andere. Heute ist Wahl-Sonntag. Viele von uns haben schon gewählt, manche vielleicht gerade auf dem Weg zum Gottesdienst, andere gehen von hier zum Wahllokal.

Frei wählen zu können ist ein Privileg. Viele Menschen haben es nicht. In einem Gemeinwesen zu leben, das demokratisch ist, in dem die Gewalten geteilt sind, das eine Rechtsordnung hat, in der niemand über dem Recht steht, sondern alle gleichermaßen demselben Recht unterworfen sind, ist nicht selbstverständlich. Ein Grundgesetz zu haben, das die Unantastbarkeit der Menschenwürde an den Anfang stellt und Rechte benennt, die allen Menschen ohne Unterschied zukommen, ist etwas ungeheuer Kostbares.

Lange haben wir das als etwas einfach Gegebenes angesehen (ich auch), und wir merken nun, dass das nicht so ist. Es gibt die politischen Kräfte, und sie haben an Einfluss gewonnen, die die demokratische Ordnung angreifen, sie innerlich auszuhöhlen versuchen und denen ein ganz anderer Staat als ein demokratischer vor Augen steht. 

Wie geht es weiter? Kaum jemand, der sich diese Frage nicht ohne Sorge stellt.

An einem Wahl-Sonntag wird deutlich, dass es nicht nur eine Frage an Politiker:innen ist, sondern eine, die uns alle betrifft. Welche Prioritäten wollen wir setzen? Welche Leitbilder stehen uns vor Augen, aus denen dann politische Entscheidungen hervorgehen? Woran orientieren wir uns? Welcher Kompass weist uns die Richtung?  

Heute ist der Sonntag Sexagesimä. Acht Wochen vor Ostern. Ein Sonntag vor der Passionszeit. Ein bisschen Niemandsland im Kirchenjahr. Dieser Sonntag hat dabei ein eigenes Thema, das sich durch Texte und Lieder hindurchzieht: das Wort Gottes.

Er erinnert daran: Das Gotteswort ist vor allem anderen: Geschenk, kostbares Geschenk. Da ist nicht nur ein undurchdringliches Schweigen im Weltenraum. Gott spricht. „Es werde…“ (Gen 1) Gottes erstes Wort. Es ist schöpferisch. Es ruft ins Leben. Es schafft eine neue Wirklichkeit, und es verändert die Wirklichkeit immer und immer wieder neu.

Ins Leben gerufen und beim Namen gerufen sind wir – jeder und jede einzelne. Angesprochen, angeredet von einem liebenden DU. Darin gründet die Würde, die jedem Menschen zukommt, unabhängig von seiner geschlechtlichen Identität, seiner Herkunft, der Hautfarbe, der Religion, ob er Kind ist oder ein alter Mensch, wie leistungsfähig oder wie hilfsbedürftig er sein mag. Gott ist ein Liebhaber der Vielfalt – von Anbeginn der Schöpfung.

Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege. Der 119. Psalm, der mit Abstand längste aller 150 Psalmen, beschreibt und feiert in immer neuen Anläufen dieses Geschenk des Wortes Gottes, das eine Richtung weist – gerade dann, wenn die Zeiten kompliziert, die Herausforderungen groß und die Entscheidungen, die getroffen werden müssen, nicht einfach auf der Hand liegen, sondern konfliktträchtig sind.

Wie soll es weitergehen?  Wache Zeitgenossenschaft braucht eine Demokratie. Sich interessieren und sich informieren. Ein Hörvermögen, die innere Bereitschaft des Zuhörens auf das, was von Gott her in der Welt ist, das ist die Aufgabe für Christen-menschen in einer Demokratie. Zeitgenossenschaft und Geistesgegenwart – des Gottesgeistes Gegenwart nämlich.  

Der Predigttext für diesen Sonntag steht in der Apostelgeschichte im 16. Kapitel: Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: Ein Mann aus Makedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Makedonien und hilf uns! Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Makedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen. Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Makedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. Am Sabbattag gingen wir hinaus vor das Stadttor an den Fluss, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen. Und eine Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, eine Gottesfürchtige, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, sodass sie darauf achthatte, was von Paulus geredet wurde. Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns.   

Das ist ja zunächst eine ganz und gar unpolitische Geschichte. Doch sie beschreibt, ganz undramatisch, eine Zeitenwende. Das Christentum überschreitet den Raum Palästinas und Kleinasiens und kommt nach Europa. In Philippi, in Griechenland, entsteht die erste christliche Gemeinde auf dem europäischen Kontinent. Und die erste europäische Christin ist eine Frau: Lydia.

Manche vermuten, dass sie eine ehemalige Sklavin gewesen ist und ihr Name auf ihre Herkunft verweist: „die aus Lydien“. Nun aber erscheint sie als eine selbständige Frau, eine mittelständische Unternehmerin. Ob sie Purpur selber hergestellt hat? Oder handelt sie mit Purpurstoffen? Wahrscheinlich ist, dass sie es zu einigem Wohlstand gebracht hat. Jedenfalls steht sie einer Hausgemeinschaft mit Bediensteten vor. Vielleicht ist sie Witwe. Sie begegnet als eine selbständige und selbstbewusste Frau, die weiß, was sie will. Gott rührt ihr Herz an, und sie lässt sich taufen – und alle, die zu ihrem Haus gehören. Eine gelebte und lebendige Gemeinschaft entsteht zwischen ihr und Paulus und seinen Gefährten. Was für ein schöner Beginn!  

Politik ist nicht das eigentliche Thema dieser biblischen Erzählung. Nicht einmal Kirchenpolitik. Trotzdem heute ein paar politische Gedanken dazu.  

Wie geht es weiter? Diese Frage gehört zu dieser Geschichte dazu, ihrer Vorgeschichte nämlich. Dort wird erzählt, dass Paulus und seine Wegbegleiter ganz andere Pläne hatten, aber es wurde ihnen vom Heiligen Geist verwehrt, das Wort zu predigen in der Provinz Asia. Als sie aber bis nach Mysien gekommen waren, versuchten sie, nach Bithynien zu reisen; doch der Geist Jesu ließ es ihnen nicht zu. (Apg 16, 6f.)

Geistes-Gegenwart bedeutet hier zu erkennen: Manche Dinge gehen nicht. Es gibt Wege, die um Gottes Willen verschlossen bleiben sollen. Nicht nur die schöne Geschichte von der ersten Gemeindegründung in Europa wird erzählt, sondern auch diese andere, die davor lag.

Also: Nicht vergessen, was war und was auf keinen Fall sein soll. Nicht so tun, als ob wir nicht wüssten, was die Ungeister des Hasses und der Menschenverachtung, was Rassismus und Größenwahnsinn angerichtet haben. Die Millionen Toten. Den Verschwörungserzählungen keinen Glauben schenken. Sich nicht aufhetzen und sich nicht irre machen lassen. Gottes Geist ist in der Welt, der Geist Jesu: klärend, erleuchtend, Liebe entzündend.

Was würde Jesus tun? Er, der ganz Mensch für andere ist. Mit seinem Herzen für die Schwachen und die am Rand.

Der Geist Jesu ließ es ihnen nicht zu. Manchmal ist es heilsam, Abstand von den eigenen Interessen und Plänen (auch den eigenen Emotionen) zu gewinnen; eine Perspektive, die größer ist als das unmittelbar Eigene. Wer geistes-gegenwärtig weiß, was nicht geht, bekommt einen freien Blick und ein weites Herz, um zu suchen, was denn stattdessen dran ist.  

Ein Mann aus Makedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Makedonien und hilf uns! Ein Traum in der Nacht. Nicht alle Träume kommen von Gott. Mich gruselt vor den Träumen der Tyrannen und Potentaten. Aber wer neue Wege sucht – auch in der Politik – sollte nicht aufhören, auf die Träume zu achten. Auf die Bilder von dem, was noch nicht vor Augen ist, aber was sein soll, was sein könnte.  

Und diese eine wichtige Frage: Wer braucht jetzt unsere Hilfe und wie sieht diese Hilfe aus? Wer droht unter die Räder zu kommen? Was dient dem Leben? Dem eigenen – und nicht nur dem eigenen, sondern auch dem gemeinsamen, dem der Kinder und Enkelkinder, der Pflanzen und der Tiere, die nicht wählen können? Oder der Menschen, die hier Zuflucht gesucht haben und über die nun geredet wird wie über Dinge, die man loswerden muss? Was tut jetzt not und was hilft, Not zu wenden? Was eröffnet Zukunft, eine gemeinsame Zukunft für alle?  

Mich berührt es, dass ausgerechnet dieser Abschnitt in der Apostelgeschichte, der vom Beginn des Christentums in Europa handelt, in der Wir-Form geschrieben ist. Nicht jeder für sich; schon gar nicht die einen gegen die anderen. In einem Miteinander werden verheißungsvolle Wege erkennbar und gangbar. Es steht nicht da, dass das leicht ist, dass es wie von selbst und ohne Konflikte abgeht. Aber es ist alle Mühe wert.  

Am 25. November 2014 hat Papst Franziskus vor dem Europaparlament in Straßburg eine Rede gehalten. Er sagt: „Ein anonymer Autor des 2. Jahrhunderts schrieb, dass »die Christen in der Welt das sind, was die Seele im Leib ist«. Die Aufgabe der Seele ist es, den Leib aufrecht zu erhalten, sein Gewissen und sein geschichtliches Gedächtnis zu sein. Und eine zweitausendjährige Geschichte verbindet Europa mit dem Christentum. Eine Geschichte, die nicht frei von Konflikten und Fehlern – auch von Sünden –, immer aber beseelt war von dem Wunsch, am Guten zu bauen. Das sehen wir an der Schönheit unserer Städte und mehr noch an der Schönheit der vielfältigen Werke der Liebe und des gemeinschaftlichen menschlichen Aufbaus, die den Kontinent überziehen. Diese Geschichte ist … unsere Gegenwart und auch unsere Zukunft. Sie ist unsere Identität. … Die Stunde ist gekommen, gemeinsam das Europa aufzubauen, das sich nicht um die Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person, der unveräußerlichen Werte; das Europa, das mutig seine Vergangenheit umfasst und vertrauensvoll in die Zukunft blickt, um in Fülle und voll Hoffnung seine Gegenwart zu leben. Es ist der Moment gekommen, den Gedanken eines verängstigten und in sich selbst verkrümmten Europas fallen zu lassen, um ein Europa zu erwecken und zu fördern, das ein Protagonist ist und Träger von Wissenschaft, Kunst, Musik, menschlichen Werten und auch Träger des Glaubens ist. Das Europa, … das auf den Menschen schaut, ihn verteidigt und schützt; das Europa, das auf sicherem, festem Boden voranschreitet…  

Was Lydia sagt, ist auch uns gesagt: Bleibt da. Mit einem Herzen, das aufgetan ist von Gottes Wort - und für Gottes Wort. Geistes-gegenwärtig. 

Sie nötigte uns. Es ist nötig.

AMEN.

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