08/12/2024 0 Kommentare
Von müden Händen, neuen Wegen und großem Trost. Predigt zum 2. Advent
Von müden Händen, neuen Wegen und großem Trost. Predigt zum 2. Advent
# D | Predigten
Von müden Händen, neuen Wegen und großem Trost. Predigt zum 2. Advent
„Mit Mama kuscheln“, schreibt die Zweitklässlerin, liebe Gemeinde. „Kuscheln mit o und i?“, fragt sie mich. „Koschiln“, spricht man doch. Rechtschreibung zählt nicht in Religion/Philosophie. Wichtig ist, dass die Grundschulkinder sich eigene Gedanken machen. Die Ideen sprudeln. Was tröstet dich, wenn du traurig bist? Wo findest du Trost? Nähe, Geborgenheit, Kuscheln hilft, schreiben sie. Das Lieblingskuscheltier, die Oma, der Papa. Wenn ich denen erzähle, wie es mir geht. Weinen ist auch gut, malt und schreibt ein Junge: Danach geht es mir besser. Kekse und Kakao helfen. Naschi überhaupt, und Musik. Einer schreibt: Fünf Euro. Oder zehn. Da komme ich auf andere Gedanken.
Abgrundtiefe Traurigkeit, Angst, Einsamkeit, das kennt jedes Kind. In RePhi dürfen sie davon erzählen. Oder davon schweigen und mit Bildern und Buchstaben Gefühle ausdrücken. Bei einem Jungen ist der Großvater gestorben. Mehrere Kinder nicken. Das Gefühl kennen sie. Ein Kind ringt Worte. Wie andere in der Klasse lebt es in zwei Sprachen und vielen Welten. Es berichtet von Abschied in der Heimat der Eltern. Die ukrainischen Kinder hören konzentriert zu, sagen wenig und malen viel. Ein Kind wischt sich die Augen. Ein anderes drückt sich eng an die Lehrerin. Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?
Es ist viel Weinen in der Welt, bei Zweitklässlern wie Zweiundvierzig- oder Zweiundachzigjährigen, viel Sehnsucht bei Zweiflern wie Zufriedenen. Ein Sehnen und Suchen nach Trost, nach Kuscheln, nach Nähe in echt düsteren Zeiten. Es ist Advent, und wir würden gern jauchzen und frohlocken. Aber die Vorfreude auf Weihnachten ist seltsam gedämpft dieses Jahr. Manche versuchen es mit Punsch und Glühwein als Weichzeichner, andere mit besonders festlicher Beleuchtung. O Heiland, reiß die Himmel auf! Sorg für ein Ende der schlechten Nachrichten. Für Frieden in den Herkunftsländern der Kinder. Hilf Rentner:innen und Familien hier bei uns, bei denen es hinten und vorne nicht reicht. Komm zu den Frustrierten, den Wütenden, den Verzweifelten. Komm bitte. Jetzt! Wir sind müde, erschöpft, angefressen und überfordert von zu vielen Dramen und Krisen.
Macht die müden Hände wieder stark und die weichen Knie wieder fest, rät der Prophet Jesaja schon vor gut zweieinhalbtausend Jahren. Sagt denen, die den Mut verloren haben: »Seid stark und habt keine Angst! Seht, das ist euer Gott! Er übt Vergeltung und schafft Recht. Er selbst kommt, um euch zu befreien.« Lange dachten wir, dass wir Vertröstung auf später nicht nötig hätten. Jenseitshoffnung? Schien jenseits von Gut und Böse. Über die Jahre und Jahrzehnte ist sie uns fremd geworden. Wir haben schließlich nur ein Leben, das kosten wir aus. Alles da, alles verfügbar, jederzeit, mehr als genug. Drei, zwei, eins, meins. Alles 24/7 nur wenige Klicks entfernt. Was könnte das toppen, was sollte das überbieten, was kann danach noch kommen? Der Verweis auf himmlische Gerechtigkeit und paradiesische Zustände klang lange Zeit bestenfalls altmodisch-rührend und eigentlich überflüssig. Aber je länger je mehr scheint mir, dass das genau die Hoffnung ist, die wir brauchen. Weil wir ahnen, dass uns die Probleme alle zu groß werden. Dass es zu viele Baustellen gibt. Dass einfache, schnelle Lösungen für zu viele zu große Menschheitsfragen nicht zu finden sind. Was für eine Entlastung, das Gott zuzutrauen. Sich in aller Ungewissheit an solche Sätze zu klammern und zu versuchen, darauf zu vertrauen. Seid stark und habt keine Angst! Gott selbst kommt, um euch zu befreien. Vor mir sitzt der Zweitklässler, der bald in die Ukraine zurückkehrt. Hat die Familie Angst um die Liebsten, Heimweh, Wut auf die, die alles kaputtschießen? Ich weiß es nicht. Ich sehe nur sein trauriges Lächeln. Ging es Jesaja ähnlich? Sagt denen, die den Mut verloren haben: »Seid stark und habt keine Angst! Seht, das ist euer Gott! Er übt Vergeltung und schafft Recht. Er selbst kommt, um euch zu befreien.« Gott sorgt für Gerechtigkeit. Überlasst Gott die Vergeltung: Mein ist die Rache, redet Gott. Eure Heimat liegt nicht ewig in Trümmern, versprochen! Verletzungen werden heil. Die Zerstörer sind keine Sieger. Sie werden verlieren. Einmal wird sich alles umkehren, und die Trümmerlandschaft wird blühen. Dann gehen den Blinden die Augen auf, und die Ohren der Tauben werden geöffnet. Die Gelähmte springt wie ein Hirsch, der Stumme jubelt aus vollem Hals. In der Wüste brechen Quellen auf, und Bäche bewässern die Steppe. Der glühende Sand wird zu einem Teich, in der Dürre sprudeln frische Wasserquellen. Wo einst die Schakale hausten, wachsen Gras, Schilf und Papyrus. Eine Straße wird dort verlaufen, die wird man den »heiligen Weg« nennen. Kein Unreiner wird sie betreten. Sie gehört denen, die auf dem rechten Weg sind. Selbst Unwissende gehen nicht in die Irre. Auf dieser Straße gibt es keinen Löwen, kein Raubtier ist auf ihr zu finden. Nur die erlösten Menschen sind dort unterwegs. Alle, die der Herr befreit hat, kehren jubelnd zum Berg Zion zurück. Grenzenlose Freude steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Jubel und Freude stellen sich ein, Sorgen und Seufzen sind für immer verschwunden.
Weinen hilft, spüren die Kinder. Wenn jemand tröstet, geht es besser. Die Sorgen, die Angst, die Traurigkeit sind in der Welt, und diese Gefühle lassen sich nicht beiseiteschieben. Nicht mit Geschenken, nicht mit Glitzer, nicht mit Konsum (fünf Euro sind für Zweitklässler viel Geld!). Das, was weh tut und schmerzt, muss Raum haben. „Manchmal muss man Angst aushalten“, sagt ein Mädchen. Muss sie durchstehen. Dann wird es besser, hat sie erlebt. Dann kann man sich umso mehr freuen. Dann tun sich Wege auf. Dann blüht uns was, leuchtend bunt.
„O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd, / dass Berg und Tal grün alles wird. / O Erd, herfür dies Blümlein bring, / o Heiland, aus der Erden spring.“ Vor 400 Jahren hat Friedrich Spee Jesajas Worte zum Adventslied gemacht. Vier Jahre dauerte der Krieg damals schon an, am Ende würden es 30 sein. Menschen sahen auf andere herab. Einige wollten sie am liebsten aus dem Land jagen oder direkt in die Hölle. Friedrich Spee war fassungslos angesichts der Hexenverfolgung seiner Zeit. O Heiland, reiß die Himmel auf, dichtete er. Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt? Elend, Ausgrenzung, Kriegsgräuel schreien zum Himmel. Damals wie heute. „Das Lied ist kein Klingeling. Es ist der bittere Ruf nach Gerechtigkeit,“ schreibt ein Journalist über den Trost dieses Liedes, die Friedensvision von Jesaja (Heribert Prantl, SZ Weihnachten 2016). „Es ist die Klage darüber, dass Weihnachten nicht kommt, obwohl es im Kalender steht. Die Klage legt die Enttäuschung frei und bricht der Sehnsucht Bahn. Sie ist der Versuch, sich zu wehren gegen kollektiven Wahn. Spee flieht nicht, auch nicht in simple Antworten. Er konnte den Terror nicht stoppen; aber er konnte tun, was ein Einzelner tun kann: ihn anklagen. Das hat er getan. […] Sein Trostschrei-Lied ist an Weihnachten heute [2016] so erschütternd wahr wie 1622.“ So wahr wie Jesajas Worte vor langer Zeit. So wahr wie die Suche der Kinder nach Trost nebenan in der Schule.
Sagt den verzagten Herzen: Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Versprochen, hoch und heilig, allen zum Trotz und zum Trost: Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen. Musik ist ein Trost, wissen die Kinder. Dieses Lied etwa voll Trotzkraft und Hoffnungsleuchten. Das Brahmsrequiem, das die Worte aufgreift. (Spoiler: Gleich nach Weihnachten beginnt der Domchor mit den Proben dafür!) Kein Zufall, dass Brahms gerade diese Sätze auswählt und dazu weitere Jesajaworte: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet (Jes. 66, 13). Mit Mama kuscheln hilft, und die Schreibweise ist dabei ganz egal. Sich bergen in Gottes Trost wie in einer Umarmung. Gott weiß, wie sehr ein Kind sich sehnt nach Geborgenheit. Weil Gott selbst als Kind zu uns kommt. Weil das Kind in der Krippe uns ahnen lässt, was uns blüht.
Der Gedanke an Weihnachten verändert die Stimmung im Klassenraum sofort. Grenzenlose Freude steht allen ins Gesicht geschrieben. Jubel und Freude stellen sich ein. In Luthers Worten: Ewige Freude wird über unserem Haupte sein. Freude und Wonne werden uns ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen. Seht auf. Kopf hoch. Gott kommt zur Welt. Dann sind auch wir ganz bei Trost. Fürchtet euch nicht. Amen
Kommentare